Lötschental
24.12.2015
Lötschental, Blatten am 10. Dezember 2015, kurz nach Mittag. Pünktlich hält der Postbus an der Endstation. Ich schaue mit wenig Begeisterung aus dem Fenster. Unten in Goppenstein, wo ich zugestiegen bin, lag der Nebel noch wie ein versiegelnder Deckel über dem Tal. Hier stecke ich nun mitten drin in den trübgrauen, dichten Nebelschwaden.
Wäre es nicht wesentlich angenehmer, einfach sitzen zu bleiben, frage ich mich. Doch da ich nun mal hier bin, kann ich ebensogut auch aussteigen. Also, erhebe ich mich mit einem energischen Ruck von meinem Sitz, schultere den Rucksack, packe Ski und Stöcke und verlasse meinen kleinen Wohlfühlort. Feuchtkalt empfängt mich der dämmrige Tag. Ich schlage den Kragen hoch – Reisverschluss zu bis obenhin – schnalle die Skier an die Füsse, mache mich, auf der wintersüber gesperrten Strasse zur Fafleralp hoch. Schwer liegt mir die Unlust in den Beinen. Schon nach ein paar wenigen Minuten verschluckt das lichtlose Grau die eben noch schemenhaft sichtbaren Häuser von Blatten. Hinter mit versinken Landschaft und Dorf im Nebel, vor mir gibt er ein kleines Stück Landschaft frei. Ganz so, als würde ich mich im Lichtkegel eines mir folgenden Scheinwerfers bewegen. Links und rechts tauchen Lärchen auf. Die zugeschneite Strasse bildet zwischen ihnen eine Gasse. Wie oft bin ich schon bei solchem Wetter losgezogen, nur von der Erinnerung getragen, dass sich das Wetter ebenso oft auch geändert hat und ich, wie die Venus aus dem schäumenden Meer, den von Melancholie durchtränkten Nebelmassen entstiegen bin. Natürlich weniger elegant und graziös. Doch dann zählt ja nicht nur das äussere Auftreten.
Die letzten Bäume fallen zurück, der Weg quert die Lonza. Ein fahler Lichtschein, so dünkt es mich, mischt sich hier unter die Tristesse. Ein fast unmerklicher Windhauch streift, von vorne her kommend, mein Gesicht. Ein gutes Omen, geht es mir durch den Kopf. Beschwinger ziehe ich meine Spur über den gefrohrenen Schnee auf Kühmatt zu. Hier steht ein wenig überhöht, bergseitig der Strasse, eine schlichte Barockkapelle, der Heiligen Jungfrau Maria gewidmet. Gerade wie ich sie erreiche, reisst der Nebel tatsächlich auf. Über der kleinen Stall-Ansiedelung vis-à-vis, erheben sich himmelhoch Breithorn und Breitlouihorn. Ob das jetzt wirklich nur mit dem Bergwind zu tun hat, frage ich mich? Schnell ist das Stativ aufgestellt, die Kamera festgeschraubt, das passende Objektiv ausgewählt. Für drei Bilder reicht es. Dann senken sich abermals dichte Nebelschleier über die Landschaft.
Eine halbe Wegstunde weiter oben gleite ich mit weitausholenden Langlaufschritten am Gletscherstafel vorbei. Dort wo sich der grosse Boden verengt, fliesst die Lonza aus einer engen Felsschlucht hervor. Eine Holzbrücke führt ans gegenüberliegende Ufer. Anschliessend steigt der Weg, der die Strasse abgelöst hat, über eine Geländeschulter bergan, verliert sich in einem lichten Lärchenwald. Nach einer kleinen, flachen Waldlichtung auf der ein Weidbrunnen steht, wird er steiler, schmaler, das Gelände abschüssiger. Unten in der Schlucht rauschen leise die Quellwasser des Bergbaches. Mit jedem gewonnen Höhenmeter hellt sich das diffuse Grau ein wenig mehr auf. Eine Haglücke, gebückt unter den Ästen einer grossen Lärche hindurch, eine enge Kurve und da – da öffnet sich der Blick auf den Talhintergrund. Winterblauer Himmel, ein paar schneeweisse Wolken, Berge überall, im Mittelpunkt die Lötschenlücke! Auf den letzten Metern habe ich mich wie als Zuschauer einer Theateraufführung gefühlt, der da im Saal ungeduldig, neugierig und voller Spannung darauf wartet, dass sich der Vorhang hebe. Um dann, mit dem Blick auf die freie Bühne, alles andere um mich herum zu vergessen.
Warm leuchtet das Nachmittagslicht auf den Sonnseiten zu mir in den Schatten herunter. Vor mir liegt, eingebettet zwischen den Bergseiten, die weitläufige flache Ebene des Grunds. In deren Fortsetzung steigt der Langgletscher zu der Lötschenlücke hinauf. Diese bildet den Fluchtpunkt für die beiden Bergketten zu meinen Seiten. Die Lücke! Das verheissungsvolle Zutrittstor zu der schönsten, in sich harmonisch abgeschlossenen Hochalpinen Region der ganzen Alpen – die Heimat der mächtigen Ströme vom Grossen Aletschgletscher, dem Ewig Schneefeld und dem Finsteraargletscher. Doch eben auch das östliche Tor zum Lötschental, dem Tal des Lichtes.
Zu meiner Linken streben die nackten Bergseiten zur Burstspitza hoch. Im letzten grossen Lawinenwinter 1998/99 lösten sich unterhalb des Gipfels, am Gugginenberg, tonnenschwere Schneemassen und wälzten den Lärchenwald von Görpa, den schönsten im ganzen Tal, flach. Die ältesten Bäume waren vierhundert Jahre alt. (Siehe auch Blog vom 23.07.2014).
In meinem Rücken,unten beim Gletscherstafel kämpfen Berg- und Talwind miteinander. Immer wieder brandet so der Nebel gegen die Falfleralp an, wabern einzelne Schwaden den Hängen entlang hoch, werden vom Wind wieder zurückgedrängt. Mit klammen Fingern wechsle ich das 50mm Objektiv gegen das 135mm aus. So verkürzt sich optisch die Distanz von meinem Standpunkt bis zu den Bergen im Talhintergrund um gut zwei Wegstunden. Das Bild im Sucher der Kamera sieht aus, als stünde ich unmittelbar vor den mächtigen Nordwänden und Nordgraten des Sattelhorns, des Distlig- und Schinhorns.
Wie so oft verliert sich die Zeit in dem unendlichen Raum der mich umgebenden Natur. Erst bei einem Blick über meine Schultern realisiere ich, wie der Tag im Tal unten langsam vergeht. Am Hockenhorn oben entflammen rotorange die Gratwolken. Ihr Licht spiegelt sich matt auf der Nebeldecke im Tal wider, verleiht der Ansicht etwas geheimnisvolles, archaisches. Vor mir legt sich das Abendglühen über die Berge, wandert langsam zur Lücke hoch, steigt weiter zu den Himmelsgraten, verweilt für eine kurze Atempause auf den letzten Gipfeln. Zurück bleibt das kühle graublaue Dezemberlicht.
Vom langen Stehen und Schauen friert es mich plötzlich ganz erbärmlich. Höchste Zeit für den Rückweg. Schnell erreiche ich den nahe gelegenen Lärchenwald. Eine kurze geschwinde Abfahrt bringt mich zurück zum Gletscherstafel. Das nun folgende Stockstossen, über den Boden zur Fafleralp hinüber, ist mir sehr willkommen. Durch die energischen Bewegungen kommt mein Blut in Wallung, sodass es wieder warm und angenehm durch meinen Körper pulsiert. Weiter geht’s im Schuss der Strasse entlang, an der Kapelle von Kühmad vorbei, über die Brücke der Lonza. Der Nebel hat sich weit hinunter zurückgezogen. Zwischen den ersten Lärchen des Waldes ob Blatten halte ich nochmals an, werfe einen letzten Blick zurück. Was für eine tolle, ja direkt weihnächtliche Abendstimmung. Doch viel Zeit zum Staunen bleibt mir nicht. In wenigen Minuten fährt unten im Dorf der Postbus. Trotzdem, diese letzte Aufnahme muss einfach sein. In Blatten erwische ich gerade noch den Bus, der mich auf Goppenstein zurück bringt.
Copyright Bild & Text: Christian von Almen. Nutzungsbedingungen: Impressum/ABG. Je nach Verwendungszweck stelle ich meine Bilder unter der "Creative Commons Lizenz" auch kostengünstig oder kostenlos zur Verfügung.
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