Hochtouren
18.01.2016
Ich kann mich noch gut an die Kontroverse erinnern, die dem Bau der Luftseilbahn ins Gebiet des Hockenhorns im Lötschental, im Jahre 2003, vorausgegangen war. An diesem Projekt schieden sich die Meinungen. Den Einen war der Erhalt der Hochalpinen Landschaft wichtig, den Anderen die Förderung des Bergtourismus. Die Dritten dachten nur an den eigenen Profit.
Heute steht die Bahn. Sie bringt mich in wenigen Minuten von der Gandegg hoch zum Hockenhorngrat. Oben angekommen, lasse ich den Blick kurz in die Runde schweifen, aufs Bietschhorn gegenüber, ins Gasterntal hinunter sowie auf die, südlich vom Rhonetal gelegenen Walliser Viertausender. Anschliessend geht es in paar rassigen Schwüngen den steilen Gipfelhang hinunter, in der Hocke entlang der langen Traverse gegen Osten, an deren Ende ich mit einem Stoppschwung abbremse und in den Neuschnee abbiege. Denn mein Ziel sind nicht möglichst viele Höhenmeter, sondern die eher beschauliche Skitour zum Petersgrat hoch. Von rund 2‘700 auf 3‘200 Meter über Meer, also 500 Meter Höhendifferenz auf einer Länge von fünf Kilometern – eine Sonntagstour.
Ich stelle den Fotorucksack neben mich in den Schnee, klebe die Felle auf; kaum ein Windhauch regt sich hier oben. Mit meiner Januarbekleidung liege ich heute definitiv falsch. Um mein Tenü den Mitte-März-Temperaturen anzupassen, ziehe ich mich bis aufs unterste Hemd aus und zippe den Reisverschluss an den Hosenbeinen auf. Im gemächlichen Schritt geht’s auf der gut ausgelaufenen Spur hoch zu einem kleinen Sattel, am Sackhorn vorbei, auf den Tennbachgletscher. Hier liegt die erste von drei grossen Mulden. Mit einer kurzen Abfahrt am jeweiligen Anfang gelangt man zu deren tiefsten Punkten. Von dort geht der Aufstieg wieder weiter. Parallel zu meiner Route, auf der anderen Seite des Lötschentals, erhebt sich die majestätische Bietschhornkette mit dem Wylerhorn ganz im Westen und dem Sattelhorn im Osten. Gegen Südwesten, über den Gipfeln vom Grand Combin und Mont Blanc, liegt ein wolkenloser, vergissmeinnichtblauer, strahlender Himmel. Über mir ist er milchig weiss überzogen.
Wie ich so einen Ski um den anderen nach vorne schiebe, den Körper zum leichten Rhythmus der Bewegungen hin und her wiege, schweifen meine Gedanken zurück zu der Hockenhornbahn und deren Auswirkungen auf die Laucherenalp. Der Anblick der vielen „willkürlich“ verstreuten Zweitwohnungshäuschen und Häusern ist alles andere als schön. Bei manchen Häuschen - ob das die billigst gebauten sind? - sind die Erdgeschosse sogar aus Beton. Erinnerungen an die Phantasie- und Lieblosigkeit von rein funktionalen Wohnsilo-Renditebauten im Mittelland werden da wach. Wie hübsch sähen hier doch vier oder fünf kompakte Stafel-Siedelungen aus die sich, so wie früher, an die Landschaft anschmiegten, gebaut mit den ortstypischen Baumaterialien. Die Laucherenalp wäre weltberühmt geworden - mit dem entsprechenden wirtschaftlichen Erfolg.
Ob dieses Gedankens erreiche ich die letzte der drei Mulden, diejenige unten am „Rote Tätsch“. Hier senkt sich ein breiter gutmütiger Rücken vom Petersgrat herunter. In einer ebenmässig steigenden Halbkreislinie welche oben nahezu ausflacht erreiche ich, nach einem Aufstieg von insgesamt vier Stunden den höchsten Punkt des Petersgrates. Hier oben weht ein kühler Wind. Nun bin ich doch noch um meine warmen Kleider froh. Wohlig warm eingepackt drehe ich mich langsam um die eigene Achse und bewundere die Aussicht.
Der Petersgrat, ein weitläufiger, fast ebener Gletscherrücken liegt wie ein Laufsteg zwischen der Blüemlisalpgruppe und der Bietschhornkette. Im Osten erheben sich Tschingel- und Breithorn. Gegen Westen schweift der Blick weit hinüber bis zum Mont Blanc.
Nach einem ausgiebigen Rast, mit den obligaten Fotoaufnahmen, mache ich mich auf den Rückweg. Die Felle lasse ich aufgeklebt. Die kurze Abfahrt wird dadurch umständlicher. Doch für die anschliessenden dreimaligen Rückaufstiegen aus den Mulden, brauche ich so nicht jedes Mal die Felle abzuziehen und aufzukleben.
Kaum das ich die letzte Mulde erklommen habe, flutet das untergehende Licht der Abendsonne die ganze Landschaft um mich herum. Berge, Grate, Hänge und Gipfel erstrahlen in einem prächtigen Abendlicht. Schnell ist das Stativ aufgestellt, die Kamera angeschraubt, das passende Objektiv ausgewählt und ich mache, wie in einem Rausch, meine Aufnahmen.
Diese Bilder habe ich schon heute Morgen im Kopf gehabt, als ich in Spiez in den Lötschberger eingestiegen bin. So geht es mir oft. Ich stelle mir die Bilder schon lange zum Voraus vor, gehe mit ihnen schwanger und dann, an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Zeit materialisieren sie sich. Oft sind es nur kurze Zeitfenster die sich öffnen. Doch diese gehören zweifelslos zu den Höhenpunkten meiner Bergfotografie!
So schnell wie sich das Licht über die Bergwelt ergossen hat, so schnell sinkt die Dämmerung herab. Müde vom Tag, schickt sich die Landschaft zur Nachtruhe an. Auch in mir lässt die Spannung nach. Die Euphorie, welche mich eben noch ganz erfasste, weicht den pragmatischen, mechanischen Vorbereitungen für die Abfahrt zur Laucherenalp. Erst wie ich, ob der Dunkelheit, fast nichts mehr sehe, schalte ich meine Stirnlampe an. Der Lichtkegel schränkt augenblicklich mein Blickfeld ein. War ich eben noch Teil der weiten, dämmerigen, mystischen Landschaft, sperrt mich der Lichtkegel nun von ihr aus. Meine Sicht schrumpft auf ein paar wenige Quadratmeter Fläche vor mir.
Copyright Bild & Text: Christian von Almen. Nutzungsbedingungen: Impressum/ABG. Je nach Verwendungszweck stelle ich meine Bilder unter der "Creative Commons Lizenz" auch kostengünstig oder kostenlos zur Verfügung.
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