Skitouren
30.03.2016
Traumwelten: Unwirklich, mystisch, Seele und Geist vereinnahmend. Die Sehnsucht danach wirkt wie eine Droge, ein Stich im Herz.
Der Schmerz beim Anblick in die Unendlichkeit die sich hier, für ein paar Augenblicke nur, offenbart. Der Schmerz über die eigene Vergänglichkeit, verstärkt durch den Wunsch festzuhalten. Und sei es auch nur mit einer fotografischen Aufnahme. »Nur« deshalb, denn was gibt schon dieser eine, eingefrorene Augenblick wieder? Stimmung und Empfindungen, Vielfalt und Grossartigkeit gehen beim Abspeichern ja weitgehend verloren. Für den Betrachter bleibt nicht viel mehr als der Blick durch ein kleines Guckfensterchen auf die Wirklichkeit. Für mich als Fotografen ist das Bild jedoch ein Stichwort für ganze Welten und Erlebnisse. Eine Gedächtnisstütze für das Vielfältige und Reiche das da war, vor diesem Sekundenbruchteil in dem das Bild entstanden ist, und für das ganze Geschehen danach. Für den Aussenstehenden erschliesst sich das Davor und Danach jedoch nur ansatzweise, wenn überhaupt. Das Bild schweigt über die Stunden wo ich unterwegs war. Es erzählt nichts über den Weg von der flirrenden Hitze über den Schneehängen, hinauf in die Kälte der schneidenden Gratwinde. Über den Wechsel vom blendend weissen Licht der Mittagsstunde in die Obskurität der Nachtdämmerung. Über die Urangst im Nacken, vor der aus dem Osten aufziehenden Finsternis der Nacht, vor der Dunkelheit des Abstiegs.
Und trotzdem mache ich meine Bilder. Halte die Welt der Berge fest, die in ihrer gesamtheitlichen Ursprünglichkeit schon lange nicht mehr existiert. In der Hoffnung, so wünsche ich es mir, dass wenigstens die Erinnerungen daran lebendig bleibt.
Zwei Wochen später bin ich wieder im Wallis unterwegs. Ich konnte die geplante Tour nicht machen. Spontan beschliesse ich darum den Bergen einen Besuch abzustatten, die mir damals, an jenem Spätabend Anfangs März, so unwirklich erschienen. Über Fiesch und Ernen führt der Weg ins Binntal hinein. Kurz nach dem fast zwei Kilometer langen, engen Stollentunnel zweigt das Strässchen von der Hauptstrasse rechts ins Lengtal ab mit dem Endpunkt Heiligkreuz. Hier treffen sich drei Gebirgsbäche, die sich im Lengtalwasser vereinen. Von einer einstmals grösseren Siedlung, die ins 15. Jahrhundert zurückgeht, stehen heute nur noch ein paar verstreute Häuser, die sich, schutzsuchend vor Wasserflut und Schneelawinen, auf Geländekuppen und an Hangrippen schmiegen. Ein paar Jahre jünger ist die oft besuchte Wallfahrtskirche. Neuerdings gibt es auch wieder eine vielversprechende Übernachtungsmöglichkeit. Am 14. Mai ist die Eröffnung.
Nachtrag vom 25.09.2016. Auf dem Weg nach Bin lohnt sich der Abstecher ins Gasthaus Heiligkreuz. Das Haus überzeugt architektonisch, innen wie aussen. Es ist liebevoll und mit Geschmack eingerichtet. Gute einfache Küche mit regionalen Produkten, ansprechende kleine Weinkarte, netter Service. Schöne Sonnenterrasse.
Ein warmer Frühlingswind streift durch die Tannen, über die noch fahlbraunen Matten und leckt am abgeschossenen Weiss der Schneeflecken. Das Schmelzwasser rauscht munter in den nahegelegenen Bergbächen. Irgendwo bellt ein Hund. Ein paar Meisen und Finken zwitschern in den Baumwipfeln. Niemand zu sehen, weit und breit. Vor mir steilt sich der lange Südhang zum Rufibort hoch, meine Aufstiegsroute. Über die Saflischmatte führt sie zum Breithorn, dem heutigen Tagesziel. Ich halte mich links an die Kante wo sich Wald und Matten treffen. Zuweilen gleicht hier der Aufstieg einem veritablen Hindernislauf. Über den offenen Steilhang, talaus, wäre es wesentlich bequemer. Doch die Verlockung hält sich in Grenzen. Das Risiko eines Nassschneerutsches scheint mir zu gross. Lieber arbeite ich mich schweisstreibend über die Kante zum Stafel hoch – safety first.
Im kühlen Schatten der sonnenverbrannten Fleckenwand eines Kuhstalles raste ich. Vierhundert Meter unter mir, quasi zu meinen Füssen, liegt Heligkreuz. Mit meinem neugierigen Blick folge ich dem engen Chriegalptal gegen Süden. Ganz hinten steigt ein schmaler, kaum begangener Bergpfad hoch zum gleichnamigen Pass, der sich mit Italien die Grenze teilt. Links vom Übergang das Helsehorn Massiv, rechts die wilde, einsame Gischihornruppe. Obwohl diesen Bergen die Gletscher schon lange weggeschmolzen sind, bieten sie einen imposanten Anblick. Vielgezahnt, rau, spitznadlig, kolossig, von Hochgebirgstälchen und Schluchten durchfurcht, durch steile Grate voneinander getrennt, streben sie aus weitläufigen Geröllhalden dem Himmel zu. Der Winterschnee mildert die sommerliche Schroffheit und verleiht den Gebirgszügen etwas fast Liebliches.
Frisch gestärkt ziehe ich meine Spur über die nun flacheren, weit welligen Hänge bergan. Eine kurze Zeit begleiten mich noch ein paar einzelne alte, zerzauste Wetter-Lärchen. Dann kommt die kleine Kapelle der Saflischalp, ein paar Holzhäuser und Ställe die sich darum scharen. Dann nur noch Schneehänge. Zuweilen streift eine trockene, kühle Brise Bieswind über die weissen Flächen. Darüber ein Himmel in dessen Blau der Blick zu ertrinken droht. In der horizontweiten Ruhe der Mittagswärme atmet die Landschaft schläfrig und träge. Das Plätschern und Gurgeln der Schmelzwasser ist schon lange verstummt, nicht mal ein Vogel zwitschert noch. Mein Steigrhythmus verlangsamt sich. Immer wieder halte ich an, bewundere die Aussicht auf die Helse- und Gischihorngruppe, mache ein Foto, steige weiter.
Über zwei Steilstufen gelange ich zum einen grossen Kreuz. In stiller Andacht versunken blickt es über Berg und Tal. Das Kreuz markiert den Anfang von einem sich fast über einen Kilometer Distanz hinziehenden flächigen Rücken hoch zum Gipfel des Breithorns. Über Böden und Kuppen und durch Mulden und über weitere Böden, Kuppen und Mulden zieht sich der Weg reichlich in die Länge. Doch schlussendlich liegt der Gipfel mit seinem sorgfältig aufgeschichteten Steinmann direkt vor mir; achtzehn Uhr. Ich klicke mich aus den Skibindungen, ziehe die Felle ab, verstaue sie im Rucksack und lege die letzten paar Meter zu Fuss zurück. Der Gipfelaufschwung ist vom Wind blank gefegt und steinig. Nur ein paar Pölsterchen haben sich im kargen Boden festgekrallt.
Am Steinmann angelehnt geniesse ich die Abendsonne und bestaune die Panorama-Fernblicke. Der in seinem Urteil unfehlbare Maurice Brandt hat hier zu Recht von einem »wunderbaren Aussichtspunkt« geschrieben. Ja, es muss nicht immer der Gipfel eines Viertausenders sein! Westlich dehnt sich die Aussicht über den Saflischpass hinweg bis zu den Walliser Viertausendern. Nördlich erhebt sich die stolze Garde der Berner Berge. Gegen Osten schweift der Blick über das winterliche Binntal bis zum Galenstock. Südlich, ganz nahe gelegen, wandert das Auge vom Geisspfadpass und Rothorn entlang der Landesgrenze zum Wasenhorn, dem östlichen Nachbarn vom Monte Leone.
Gut eingepackt in meine Schutzkleider kuschle ich mich wohlig in die Wärme meines Körpers und geniesse den prächtigen Abend. Langsam breiten sich die weitläufigen Perspektiven der Landschaft in meinem Inneren aus. Das klare, Konturen heraus meisselnde Licht der tief stehenden Sonne, das strahlende Weiss, die dunklen Schatten auf Bergen, Hängen und Weiden, das grosse andächtige Schweigen der Natur, der alles überspannende enzianblaue Himmel über mir.
Viel später dann schwinge ich, in weit gezogenen Bögen, dem Lichtkegel meiner Stirnlampe folgend, über die angesulzten Hänge der Saflischmatte hinunter, erfüllt von der Leichtigkeit des prächtigen Abends. Unten beim Rufibort, wo der Bieswind tagsüber nicht hinkam, ist der Schnee auf dem Südhang noch weich und schwer. So entscheide ich mich für die Alpstrasse, die mich zu später Stunde wohlbehalten nach Heiligkreuz zurück bringt.
Copyright Bild & Text: Christian von Almen. Nutzungsbedingungen: Impressum/ABG. Je nach Verwendungszweck stelle ich meine Bilder unter der "Creative Commons Lizenz" auch kostengünstig oder kostenlos zur Verfügung.
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