Urbachtal
20.08.2016
Dort wo die Welt aufhört, fängt das Urbachtal an. Auf der Nordseite streben himmelhohe, fast senkrechte von Wasser, Wind, Sonne, Eis und Schnee, aufgeschrundete Kalkfelswände den Wolken zu. Ein Wirrwarr von Schluchten, Graten, Zacken und Türmen.
Eingeschobene Felsbänder mit grün leuchtendem Frühlingsgras verströmen ein wenig Fröhlichkeit in der ansonsten grau in grauer Tristesse. Auf dem einen und anderen trotzt seit Jahrzehnten ein kleines Laubbaumwäldchen den Schnee- und Steinlawinen. Ich lege meinen Kopf ganz zurück in den Nacken und folge mit dem Blick den Felsen. Weit oben, auf der Schulter eines riesigen Felskessels, erblicke ich eine einzelne Baumgruppe. Sie erinnert mich an einen Leuchtturm im anbrandenden Meer.
Die schmale Zugangsstrasse verlangt einiges an Fahrkönnen. Zum einen sind da steile Haarnadelkurven zu meisten. Zum anderen, und wenn das „Glück“ es will, kommt der Bauer mit seinem grossen Traktor grade an der engsten Strassenstelle entgegen. Dann heisst es über eine längere Strecke rückwärtsfahren; Halsstarre inklusive. Doch wer sich erfolgreich gegen diese „Widrigkeiten“ behauptet, dem wartet beim Eintritt in das kaum 3 Kilometer lange Hochtal ein prächtiger Blick. Saftig grüne Wiesen, dazwischen mäandernde Quellbächlein sowie Erlengehölz entlang dem Talbach. Zur Rechen strebt der kühne, den Himmel berührende, Orgelprospekt der Engelhörner empor.
Einer der vielen Reize dieses Tales besteht in der Vielfalt seiner Vegetation. Sie ist auf kleinstem Raum leicht erwanderbar. Die Tour startet beim Taleingang, bei den landwirtschaftlich genutzten Talweiden, führt vorbei an kleinräumigen Sumpfgebieten, zu einer Allmend, einem Vorsass, durch eine wildromantische Auenlandschaft. Das mächtige Urbachwasser hat sie über Jahrhunderte erschaffen. Seine Quelle liegt 1‘300 Meter weiter oben im Quadratkilometer grossen Gletscherbecken des Gauli. Doch seitdem sein Wasser auf halber Stecke, bei der Mattenalp, gefasst und in einem Stollen hinüber in den Grimselstausee abgeleitet wird, rauscht nur noch ein kleiner, bescheidener Bergbach durch den Talboden.
Das erklärt wohl auch, warum die Bauern früher, als jeder Quadratmeter Land zum überleben wichtig war, diesen Teil des Tales brach liegen liessen. Hier mussten die Menschen seinerzeit vor der elementaren Kraft des Gletscherwildbaches kapitulieren. So lässt sich in diesem Tal der archaische Reiz einer der ganz seltenen Bergauenlandschaften noch anschaulich erleben. Heute zählt sie zu einer der letzten erhaltenen Auenladschafen der Schweiz. Neunzig Prozent aller übrigen, einst bestehenden, fielen der wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Entwicklung, der Ertrags- und Effizienzsteigerung anheim. Dabei wären Auen, langfristig betrachtet, vermutlich eine der ökonomisch vorteilhaftesten Art Hochwasser zu bekämpfen.
Wer Auen-Land betritt, verfällt früher oder später dem Zauber dieser Schwellen-, dieser Zwischenwelt. Ein Ort, wo Land und Wasser immer wieder von Neuem ineinanderfliessen, sich vermählen, um sich wieder zu trennen. Dieses ewige Hin und Her im Verlaufe der Jahreszeiten, schafft die Grundlage zu einer der artenreichsten Lebensräume der Schweiz. Hier im Urbachtal kommen im Frühjahr noch mächtige Lawinenkegel dazu. In weit aufgerissenen schwarzen Löchern verschlucken sie das weiss schäumende Wasser der Fälle und Bäche. Ein paar Hundert Meter talabwärts sprudelt es dann wieder, voller Lebenslust, aus der Finsternis ans Tageslicht hervor. Plätschernd, gurgelnd und rauschend trennt es sich in eine Vielzahl von Wasserläufen. Auf deren Grund schimmern wie ein kostbarer Schatz die Kieselsteine in den Farben braun, weiss, rot und grün.
In diesem Jahr besuchte ich das Hochtal zum ersten Mal im Frühsommer. Am Morgen regnete es noch aus grauen Wolken. Doch beim Betreten des Tales kam Wind auf. Über mir wich die Wolkendecke einem strahlend blauen Himmel. Als wäre da plötzlich eine Luke über einem dämmrigen Raum aufgeschoben worden. Zu beiden Seiten des Tales hielten sich jedoch die Nebelschlangen hartnäckig. Erst jetzt sah ich, dass es in den vergangenen Tagen weit herunter geschneit hatte. Zudem lagen in den Flühen und an den Bergseiten der Rosenlauikette noch die grossen Schneefelder des vergangenen Winters. Aus diesen ergossen sich nun leuchtend weisse Wasserfälle. In breiten Bändern flossen sie über die von Grasbüscheln überwachsenen, graunassen Felsen herab. Sie erinnerten mich an die Bilder des Waimanu Falls auf Big Island im fernen Hawaii. Mit dem Unterschied, dass sich hier die Wasser auf der Talsohle nicht im üppig, tropischen Grün zu Bächen sammelten, sondern in den klaffenden Schründen zwischen den Lawinenkegel des Winters und der Felswand.
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