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Gauli

Der Gauli Gletschersee

20.09.2016

August. Endlich ist der Sommer in die Berge gekommen. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen, blauen Himmel warm herab. Ganz oben in den Bergen leuchtet der Neuschnee strahlend weiss. Ideale Bedingungen um meinen lang gehegten Wunsch, ein Besuch des Gauli umzusetzen. Um neun Uhr starte ich vom Parkplatz, zuhinterst im Urbachtal. Im unteren Teil führt der Weg durch einen tropisch anmutenden Bergwald.

Eisenhut

Aus meterhohen Farnstauden wachsen junge Bergahorne mit grauen geschmeidigen Stämmen. Wer hier ein wenig verweilt bemerkt vielleicht, wie diese sich, zwischen den „Urwaldfarnen“, in einem sachten Reigen hin und her bewegen. Gross und patriarchalisch stehen da und dort dunkel geschuppte Fichtenstämme und schauen voll Gleichmut dem jugendlichen Treiben zu. An manchen Orten lichtet sich das Ästedach. Warmer Sonnenschein fällt in das schattige Halbdunkel und auf kleinen Lichtungen. Von den Strahlen zum Leben erweckt, recken und strecken sich ein paar unentwegte Optimisten, zwischen den Farnwedeln hindurch, keck dem Himmel entgegen. Die purpurroten Farbtupfer der Alpendistel, leuchtend gelbe die Alpen-Goldrute, eine Liebhaberin von lichten Wäldern, vereinzelte Dolden des weissen Kerbels, eine prächtige weisse Marien Glockenblume, ein gelber hochgiftiger Eisenhut.

Wolfs-Eisenhut
Marien-Glockenblume
Bergveilchen

Der Wald schützt angenehm von der Wärme des Hochsommertages. In der Luft liegt noch ein letzter Rest der Nachtkühle. So steige ich leichtfüssig und beschwingt bergan. Bei der Schrattenalp fällt der Wald jedoch zurück. Magere Kuhweiden geben den Blick auf das Tal fei. Ein paar einzelne Fichten noch, dahinter majestätisch die Engelhörner. Ein Dutzend hausgrosser Felsblöcke, zeugen von einem Bergsturz. Im Schutze des grössten, duckt sich eine kleine Hütte. Rauch steigt aus dem Kamin. Kühe weiden gemächlich, das Glockengebimmel mischt sich unter das Rauschen der Bergbäche. Zeit für eine kurze Rastpause.

Ich tausche die langen gegen die kurzen Hosen, schmiere mich nochmals sorgfältig mit Sonnencrème ein, setze den Hut auf, schwinge den Sack auf den Rücken und mache mich so gewappnet, auf zur nächsten Etappe, dem eigentliche Pièce de Résistance. Der Weg steigt nun ebenso unbarmherzig den steilen Wang hoch, wie die Sonne auf denselben herunter brennt. Ganz oben wird es nochmals steiler und wohl nochmals heisser. So ist mein Entscheid schnell gefasst, den wohl weiteren doch weniger steilen Weg über die Mattenalp zu wählen. Der Umweg lohnt sich. Nicht zuletzt auch wegen des hübsch gelegenen Stausees mit der schönen Aussicht auf einen Teil der Gauliberge. Kaum zu glauben, dass noch um 1850 der Gletscher bis hier herunter, zum heutigen Standort der Staumauer, vorstiess.

Nach einem kurzen, steilen etwas mühseligen Abschnitt führt der Weg beschaulich entlang der vom Gletscher ehemals längs, also parallel zur Falllinie, abgeschliffenen Felsbuckeln. Über die Jahrhunderte hat sich auf ihnen an vielen Stellen ein solides Polster mit alpinem Pionierrasen gebildet. Buckel über Buckel geht’s bergan, dazwischen eingelassen liegen in den Senken saftig grüne Bergwiesen. An zwei, drei Stellen plätschert ein munteres Bächlein. Das Wasser ist glasklar, angenehm kühl, ideal um meinen Durst zu löschen. Wie ich wiederum einen Buckel erstiege, da flattert, völlig unerwartet, vor mir in Rot und Weiss die Schweizerfahne lustig im Wind. Jetzt wird auch die Hütte nicht mehr fern sein. Und richtig, erst taucht der Dachfirst, dann die ganze Hütte auf.

Die Gaulihütte

Steht da, als ob sie aus der Landschaft heraus gewachsen wäre. Ein kleines Bijou am Ende eines langen Zustiegs. Hier hat sich noch kein Architekt mit einem Kubus, dessen ästhetischer Sinn sich mir oftmals nicht erschliesst, selbst verwirklicht. Die Aussenwände sind geschipfelt. Das heisst, die Wände sind mit kleinen Holzschindelchen verkleidet. Über die Jahre zauberte die Witterung einen milden Farbton in den Schattierungen braun, grau und schwarz auf das Holz. Die Farbmuster und Farbtöne erzählen unzählige Geschichten von Sonne, Wind, Regen, Schnee und Sturm.

Wegen meinen vielen Unterbrüchen bin ich wesentlich länger als die nur knapp fünf Stunden unterwegs gewesen. Dennoch erstaunt mich die vorgerückte Zeit. Nicht die Hütte ist ja mein Tagesziel, sondern der Gletschersee. Und der liegt noch eine gute Stunde weiter oben. Darum will ich mich nur kurz bei der Hüttenwartin anmelden um mitzuteilen, dass ich wohl erst gegen neun Uhr abends kommen werde. Der herzliche Empfang übertrifft bei weitem die angenehm kühlende Brise von vorhin. Und so fällt es mir nicht schwer, für den offerierten Willkommenstee, ein paar zusätzliche Minuten aufzubringen. Er schmeckt vorzüglich, ist warm, würzig und nicht zu süss. Im Herzen gewärmt und vom Tee gestärkt mache ich mich alsbald wieder auf die Socken.

Kurz nach der Hütte zweigt der Weg nach unten ab, was mich ein wenig missmutig macht. Denn unten angekommen muss jeder Höhenmeter erneut erstiegen werden. Was soll’s, denke ich: Die paar zusätzlichen Höhenmeter nehme ich doch souverän auch noch mit. Durch ein längst ausgetrocknetes Bachbett steigt der Pfad nun zwischen Zyklopenblöcken hoch zum See. Oben flacht der felsige Schluchtgrund aus. Vor mir öffnet sich eine hübsche kleine Ebene mit Gletschervorfeldvegetation. Doch vom See fehlt nach wie vor jede Spur. Dafür entschädigt mich ein erster prächtiger Panoramablick auf die Gauliberge.

Erster Blick auf das Panorama der Gauli Berge

Vom späten,tiefeinfallenden Nachmittagslicht sind sie theatralisch ausgeleuchtet. Grosse, harmlose Kumuluswolken ballen sich über den Gipfeln. Ich packe die Fotoausrüstung aus, wähle ein mittleres Weitwinkelobjektiv, mache meinen ersten Aufnahmen, schultere anschliessend Stativ und Kamera und ersteige den kleinen Moränenwall vor mir. Oben angekommen liegt der See – endlich –vor mir, eingebettet zwischen Felsen, und Bachschuttdeltas.
Der Stein leuchtet warm, das leicht gerippelte Wasser schimmert in hellem Türkis. Über dem Ufer vis-à-vis liegen die dunklen Schatten der Abendwolken. Nur gerade ein paar Sonnenstrahlen stehlen sich an ihnen vorbei. Ihr gleissendes Licht fällt genau auf den Gauligletscherbach und verwandelt diesen in reines, glänzendes Silber.

Der Gauli Gletschersee

Ich stehe da, lasse die Grossartigkeit in mich herein, mache meine Bilder, staune, freue mich hier zu sein. Erst, als sich der Wolkenvorhang vor die letzten Sonnenstrahlen schiebt merke ich, dass es höchste Zeit zum Aufbruch ist. An einem kleinen Bergbach wasche ich den Schweiss des Tages vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen herunter und kehre so, zur späten Stunde, frisch „geduscht“ zur Hütte zurück.

Im gemütlichen Aufenthaltsraum sitzen bei Gesprächen und Spielen an die zwanzig Gäste beisammen. Auch zwei Familien mit kleinen Kindern sind da. Die eine habe ich heute unterhalb der Schrattenalp angetroffen. Der Benjamin sah recht mürrisch und unmotiviert in die Welt hinaus. Er erinnerte mich an meine Wanderferien. An die oft stundenlangen Exkursionen mit meinen Eltern, die wir Kinder nicht ganz so toll fanden. Doch im Nachhinein möchte ich keine missen. Dem Kleinen scheint es ähnlich zu gehen. Auf jeden Fall ist er jetzt wieder fröhlich und putzmunter.

Die Küche ist eben so gut wie die Gastfreundschaft, die von Herzen kommt. Fränzi, die Hüttenwartin, fröhlich, aufgestellt doch auch bestimmt, verleiht dem Ort das Ambiente welche es braucht, um sich als Gast wohl zu fühlen. Mit grossem Appetit esse ich die aufgetischten Älplermagronen, trinke einen Liter Hüttentee Spezialmischung dazu und die Welt ist rundherum in Ordnung.

Nach einem kurzen Schlaf piepst der Wecker um drei Uhr. Draussen ist es noch dunkel. Am Himmel funkeln die Sterne um die Wette. Im Lichtkegel der Stirnlampe steige ich, noch ein wenig schlaftrunken, ein weiteres Mal zum See. Wie leicht fällt mir heute das Gehen. Denn für einmal wiegt mein Rucksack nicht an die fünfzehn Kilo, sondern lediglich deren Fünf. Gestern habe ich den Grossteil meiner Ausrüstung beim oberen Schluchteingang deponiert.

Beim See angekommen lässt sich das allererste Dämmerlicht, hoch oben auf dem Ewig Schneehorn, mehr erahnen, als es tatsächlich zu sehen ist. Dunkel und still liegt das Wasser vor mir. Aus der Finsternis rauschen die Gletscherbäche. In aller Ruhe packe ich meine Ausrüstung aus, ziehe mir eine leichte Daunenjacke über und warte auf das Licht. Langsam weicht das Schwarz der Nacht einem Ultramarinblau in dem Firn und Gletscher weiss phosphoreszierend aufleuchten. Wenig später berührt Aurora die höchsten Spitzen der Gipfel, küsst die Berge wach. Grate, Firne und Gletscher strahlen Rotorange auf. Doch auch das dauert nur eine kurze Zeit. Das Morgenrot vergeht und mach dem klaren Blau des Tages Platz macht. Tausendmal gesehen, tausendmal aufs Neue begeistert.

Die Gauliberge

Die scharfkantigen mit Nadeln und Felstürmchen gespickten Grate des Ritzlihorns werfen ihren Schatten noch immer auf das Seebecken. Ich wandere dem Ufer entlang, halte mal hier mal dort, bestaune dieses und jenes Detail. Manchmal mache ich eine Aufnahme. Wenn »der Teufel im Detail liegt«, so liegt die Grossartigkeit, die Schönheit, das Besondere ebenfalls dort. Denn oft sind es diese Kleinstausschnitte, inmitten der gewaltigen Berglandschaften, die eine Brücke zum Menschen schlagen.

Alpensäuerling und Schmiele
Gletscherschliff
Rispengras und Edelweiss
Das Triffthorn spiegelt sich im Steinseeli

Eine gute Stunde später hat die Sonne auch mich erreicht. Das Wasser funkelt unter dem Blau des Morgenhimmels in den drei Becken der Seenebene, wie wertvolle, türkisfarbige Juwelen. Anmutig schmiegen sich sie sich um die Steinhöcker-Halbinsel herum. Jeder von ihnen liegt ein paar Meter tiefer als der andere. Dazwischen kleine Wasserfälle. Fehlen nur noch die Springbrunnen und man könnte man meinen, die Götter hätten sich hier eine hochalpine Wasser-Parkanlage erschaffen.

Die Seenlandschaft des Gauli

Schlussendlich sammeln sich die Wasser in einem schluchtartigen Abfluss. An der engsten Stelle spannt sich eine Hängebrücke zwischen den beiden Ufern. Der Gletscherbach fliesst noch ein paar Dutzende Meter entlang der Ebene bevor diese jäh abbricht, und die Flut lautlos mit ins Nichts reisst. Natürlich weckt das meine Neugier.

Wollgras
Das Wasser des Urbachs

Im orografischen Sinne links, folge ich einem schmalen Pfad. Der schlängelt sich seinerseit dem Bachbett entlang. Nach kurzer Wegstrecke endet er abrupt auf einem ausgesetzten Felsvorsprung. Unmittelbar zu meinen Füssen öffnet sich ein über 50 Meter tiefer Abgrund in ein enges, kleines Tal. Das Wasser rauscht in drei mächtigen, parallel angeordneten Wasserfällen weiss schäumend und tosend über den dunklen Fels. Mir ist fast so, als stünde ich auf einer Klippe, unter mir das anbrandende Meer.
Immer noch links vom Wasser, verläuft der Weg nun über exponierte Passagen zum Fusse der Fälle. Die heikelsten Abschnitte sind mit Ketten und Eisenstiften gesichert. Schwindelfreiheit obligatorisch! Auch von unten ist der Anblick grandios. Der Gletscher hat, fast auf der Höhe der Ebene, einen leicht abfallenden Querkanal aus dem Felsen geschürft. Das Wasser schiesst da hinein und wird an drei Orten aus dem Kanal, in herrlichen Kaskaden, ins Leere hinaus geschleudert. Ein wahrlich spektakulärer Anblick. Ça vaut le voyage!

Die Gauli Gletscherwasserfälle

Ein Blick zum Himmel zeigt mir, wie die Sonne schon lange ihren Zenit überschritten hat. Mir wird bewusst, wie ich mich von Neuem in der grossartigen Landschaft verloren habe. Über den Schafsberg geht’s auf gutem Bergweg zum Mattenalpstausee hinunter. Dort beschliesse ich meinen Rundgang im weitläufigen Talabschluss des Gauli, nehme mit ein wenig Wehmut Abschied. Unter dem milchig weissen Himmel trete ich den langen Abstieg an. Wenn nur diese stundenlangen Abstiege nicht wären. Um mich zu motivieren, esse ich noch rasch einen kleinen Happen, trinke von der nahegelegenen Quelle. Beim Einnachten erreiche ich den Parkplatz im Urbachtal. Auf dem letzten Wegstück hat in leichter Regen eingesetzt. In der Nacht wird er sich zu einer wahren Sintflut entwickeln.


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