Skitouren
13.02.2017
Das Faulhorn, der perfekte Aussichtsberg, wäre da nicht der Similistock. Massig erhebt er sich mittig im Vorgrund, verdeckt einen Teil der spektakulären Ansicht auf die Berner Hochalpen. Doch auch so ist das Panorama eindrücklich. Nordseitig stürzt der bange Blick über eine Steilwand auf die Bättenalp. Die Augen schweifen hinüber zum Brienzerrothorn bleiben an dem, von weit unten herauf schimmernden Türkisblau des Brienzersees hängen. Gegen Süden fällt der Berg über steile Grasseiten, im Sommer ein schweisstreibender Aufstieg, zum Gassenboden ab. Gegen Westen und Osten reihen sich zahllose Voralpengipfel, vom Wildstrubel bis zum Titlis.
Seine Höhe beträgt 2‘681 Meter. Die erste verbürgte Besteigung durch einen Pfarrer datiert aus dem Jahre 1783. Grindelwaldner, deren Väter und Grossväter auch schon auf dem Gipfel standen, führten ihn. Viele Geschichten sind mit dem Faulhorn verbunden. Das Berggasthaus gehört zu einem der allerersten in der Gegend. Vermutlich um 1830 erbaut, beherbergte es bereits ein Jahr später den Komponisten Felix Mendelssohn. In seinem Bericht vom 15. August 1831 schreibt er: «Hu, wie mich friert! Es schneit draussen mit Macht, stürmt und wüthet». Und «… das Wetter war fürchterlich heut den ganzen Tag». Es spricht für die Wanderlust des Komponisten, dass er trotz den misslichen Umständen aufs Faulhorn gestiegen ist. Dem Ruhm des Aussichtsberges hat das übrigens nicht geschadet, im Gegenteil. Bereits 1832 entstand ein grösseres Gasthaus.
Mit dem Wetter, so scheint es wenigstens im Augenblick, ergeht es mir ähnlich wie Mendelssohn. In der Gondel der Firstbahn sitzend, schwebe ich durch das feuchte Grau dichter Nebelschwaden. Zuweilen schauen schemenhaft hohe Bergtannen herein, der Boden auf dem sie stehen unsichtbar. Wie tief liegt er unter mir, zehn, fünfzig oder mehr Meter? Frühmorgens sprachen die Meteorologen noch von einem Schönwetterfenster zwischen zehn und fünfzehn Uhr. Ich bin pünktlich. Doch wo ist die Sonne? Je länger die Bergfahrt dauert, desto stärker ist mein Optimismus gefragt. Mit jedem Höhenmeter lasten Tristesse und Melancholie schwerer auf meinem Gemüt. Doch dann, auf den letzten Metern klart es tatsächlich auf.
Nur, die Freude währt kurz. Über den Wolken ist unter den Wolken. Eine kompakte Decke auf rund 4‘500 Meter blockt das Himmelsblau ab. Was machen, frage ich mich? «What the hell», antwortet mein Pragmatismus. Ich besteige den Oberjochsessellift im Vertrauen auf dem Westwind, der es schon richten wird. Und so ist es. Über dem Wildstubel leuchtet der erste blaue Himmelsstreifen. Einem witternden Jagdhund gleich, gleiten meine Augen über die weit im Westen liegenden Gipfel und Grate. Sonnenlicht moduliert und akzentuiert die Landschaft dort. Trägt der Wildstrubel, die Blüemlisalp nicht eine Schneefahne? Ein wenig atemlos stelle ich das Stativ auf, schraube die Kamera darauf fest. Mir gegenüber türmt sich, mächtiger als jede irdische Festung, das Scheckhorn in den Himmel; von Sturmwolken umtost mit Schneefahnen geschmückt. Wie flüchtig ist diese grossartige Szenerie, wie lange hält sie wohl an? Zwinge mich zur Ruhe. Wiederstehe dem Impuls der tausend Bildern vom Gleichen. Versuche, stattdessen den Berg in mir drinnen zu spüren. Am Schluss sind es nur gerade zehn Bilder.
Vom Neuschnee intensiv reflektiert, stehe ich im blendenden weissen Sonnenlicht. Das schöne Wetter ist nun auch bei mir angekommen. In beschwingten, lockeren Ziehschritten folge ich dem Weg zum Bachsee. Unterwegs hält mich eine Chinesin in Stadtkleidern, doch immerhin in einen Wintermantel eingehüllt, an. Ich erkläre ihr, dass das Wasser des Sees, offenbar ihr Ziel, unter Eis und Schnee liegt, was sie bedauert. Ich rate ihr auch, bei diesen grellen Lichtverhältnissen eine Sonnenbrille zu tragen, was sie nicht begreift. Vermutlich gibt es zu dieser Situation noch kein App für das Smartphone.
Beim Seeufer enden die Spuren. Im gleichmässigen Rhythmus schieben sich meine Skispitzen nun über die unberührte, zugewehte Piste. Nebelschleier leisten mir Gesellschaft, verhüllen, enthüllen die Landschaft um mich herum. Trug- und Traumlandschaften. Traumwandler. Tagträumer. Nichts ist so wie es scheint. Die Berge zeigen ihre wahre Seele, wenn sie sich halb verhüllen.
Zufrieden mit Gott und der Welt steige ich weiter bergan Richtung Faulhorn. Folge mit den Augen sehnsüchtig den eleganten Flugschlaufen einer kreisenden Bergdole über mir. Bleibe am Reetigrat oben hängen. Schneefahnen flattern im Sturm, treiben weit ins Lee hinaus. Schleier aus reinem Licht, im Blau des Schattenhanges verglühend. Windhosen wirbeln gleich tanzenden Derwische im Hohlicht, die Arme weit gebreitet, die wallenden durchsichtigen Gewänder vom Winde aufgebauscht. Die letzten Ausläufer reichen bis zu mir herunter. Ein leises Wehen von einer mir nahen Geländekuppe, sanfte, kühle Berührung auf meinem Gesicht. Leider ein untrügliches Zeichen, dass das schöne Wetter nicht ewig halten wird.
Kurz vor dem Sattel ziehe ich mir die Windjacke über. Der stiebende Schnee dort oben bedeutet das baldige Ende der Ruhe. Über den Gassenboden, ein kleines Hochplateau, bläst der Westwind dann in kräftigen, langen Stössen. Hinter mir schliesst ein Tourengeher schnell zu mir auf, eine junge Frau. Sie überholt mich, grüsst und schon ist sie an mir vorbei, zieht ihre Spur steil zum Berghotel hoch. Ich lasse mir Zeit, geniesse den mich zerzausenden Wind, die Aussicht, geniesse es hier zu sein. Im gemächlichen Schritt felle ich ihr nach. Auf halber Strecke kreuzen wir uns nochmals. Einen vom Winde verwehter Abschiedsgruss und weg ist sie. Was wird sie wohl von diesem Tag mit nach Hause nehmen?
In einer windgeschützten Mauerecke steige ich aus den Skibindungen. Schnell sind die Felle abgezogen und im Rucksack ordentlich verstaut. Unter mir brodelt das Nebelmeer, als ob sich ein ganzer Ozean in die Lütschinentäler herein ergiessen würde. Die Gipfelspitzen von Männlichen, Tschuggen und Lauberhorn ragen als umschäumte Felsklippen aus der Brandung. Darüber majestätisch, würdevoll, still in sich ruhend die Drei- und Viertausender der Berner Alpen.
Weit im Westen, über dem Wildstrubel, kündigen die aufziehenden Altostratus Wolken jedoch bereits den abermaligen Wetterwechsel an. Dazwischen, näher zu mir, tummeln sich paar hellgoldene Föhnfische am Himmel. Diesmal mache ich mehr Bilder, setze verschiedene Objektive ein. Für die Panoramen das 35er. Für spezifische Ausschnitte das phänomenale 180er. Als gut schweizerischer Kompromiss kommt das 90er zum Einsatz.
Bin ich erst zehn Minuten hier? Ist schon eine halbe Stunde vergangen oder sogar mehr? Ich kann es nicht sagen. Auf jeden Fall merke ich, dass sich der Wind gelegt hat. Bald wird sich das Wetter nun endgültig ändern. Mit prüfendem Blick lasse ich meine Augen entlang dem Bergkettenpanorama gleiten. Links vom Schreckhorn, über dem Luteraarsattel, liegt der letzte Rest einer Föhnwalze. Solange sich dort der Gletscherföhn hält – so nannten die alten Grindelwaldner den Föhn von Luteraarsattel –, bleibt mir noch genug Zeit für den Heimweg. In flotter Fahrt geht es hinunter zum Bachsee, ein letzter Blick zurück aufs Faulhorn. Ja, es reicht sogar noch für ein paar weitere Bilder, bevor der Tag in einem diffusen Wolkendämmerlicht versinkt.
Copyright Bild & Text: Christian von Almen. Nutzungsbedingungen: Impressum/ABG. Je nach Verwendungszweck stelle ich meine Bilder unter der "Creative Commons Lizenz" auch kostengünstig oder kostenlos zur Verfügung.
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