Hochtour
11.06.2017
Tagwacht um ein Uhr, kurzes Frühstück, draussen scheint der Mond taghell. Warm ist es. Der Bach rauscht unvermindert. Der grosse Schatten des Hüttenpfeilers liegt dunkel auf dem Schnee. So steige ich die ersten Höhenmeter im Lichtkegel meiner Stirnlampe. Oben, beim alten Hüttenplatz, verstaue ich sie im Rucksack. Zick-Zacke über die schon stark abgeschmolzene Gletscheroberfläche hoch zum Kessel unter der Südwestwand. Auf der Suche nach allfälligen Spalten wandert mein Blick ununterbrochen über die Fläche vor mir. Der Schnee ist hier oben zwar besser gefroren, doch bei diesen hochsommerlichen Tagestemperaturen will das nicht viel heissen. Gross und kolossig ragt die von den anbrandenden Westwindwettern stark verwitterte Wand himmelwärts. Unter ihren Pfeilern, Türmen, Graten und Schluchten quere ich hinüber zum bereits schneefreien Frühstücksgrat. Schnalle die Skier auf den Rucksack. Warmes Mondlicht fällt auf den gut sichtbaren Weg. Beim Frühstücksplatz studiere ich nochmals kurz die lange, recht steile Gletscherseite hoch zum Hugisattel. Erinnerungen an den nicht enden wollenden Aufstieg zum Breithorpass, auf dem Weg zum Monte Leone, werden wach. »Nun dann«, sage ich mir, »packen wir es an«. Unzählige Zick-Zacke später erreiche ich den Hugisattel bei Tagesanbruch.
Am Hugisattel musste der Gletscherforscher Hugi 1829 zum dritten Mal umkehren. Nur seine Führer erreichten den Gipfel. Das Finsteraarhorn wollte ihn nicht. Ob das wohl einer der Gründe war, die Erstbesteigung von den Führern des Aargauer Alpinisten Meyer aus dem Jahre 1812 anzuzweifeln? Bestätigt wurde Hugi wohl auch durch die von der Seilschaft Meyer gewählte Route über den Südostgrat. Diese galt zu seiner Zeit als unbezwingbar und gilt selbst heute noch als anspruchsvoll. Der Gerechtigkeit halber sei hier jedoch ebenfalls erwähnt, dass Hugi mit seiner Ansicht nicht der einzige prominente Zweifler war. Doch nur etwas als unwahr darzustellen, weil es die eigene Vorstellungskraft übersteigt? Denke an Ueli Steck, mit seiner Anapurna Südwandbesteigung, an die Gemeinsamkeiten dieser beiden Ausnahmebergsteiger - zweihundert Jahre liegen zwischen ihnen. Rudolf Meyer schrieb damals:
Bei meiner letzten Besteigung vor gut dreissig Jahren war der Grat zum Gipfel fast ganz mit Firnschnee bedeckt. Diesmal klettere ich über leichte Felsen und quere ein paar wenige, halb gefrorene, halb vereiste Firnflecken. Eine knappe Stunde später stehe ich auf dem Gipfel, 4274 Meter, genau genommen 4273.9 Meter, Schweizer Präzision, auch im Hochgebirge. Suche einen grossen Steinbrocken, lege ihn auf den höchsten Punkt et voilà: die Höhe ist aufgerundet. Überblicke den halben Alpenbogen. Ganz im Osten der Tödi, dahinter der Säntis, weiter rechts die Bernina Gruppe. Gegen Süden der Gletscherhochrücken des Basodino. War mal – vor langer Zeit – im Militär dort oben. Anschliessend alle Walliser Viertausender sowie als krönender Abschluss der Mont Blanc.
Tief unter mir, im Westen, die Grünhornlücke. Der Hauch Bangigkeit von gestern ist der Konzentration während des Aufstiegs und jetzt einer jauchzenden Freude gewichen. Noch vor drei Monaten schien es mir unmöglich, nochmals je eine solche Tour machen zu können. Kein Windhauch, nur Italien liegt unter einer kompakten Hochnebelschicht. Über den nördlichen Voralpen, dem Jura und dem Schwarzwald schwebt ein zarter Dunst. Rundherum leuchten in reinstem Weiss unzählige Gipfel im klarsten Morgenlicht. Der Tiefblick gegen Osten auf den Finsteraargletscher ist imposant und schauerlich. Erschreckend, wie stark die Schnee- und Firnoberflächen der stauseenährenden Gletscher bereits abgeschmolzen sind. Ganz so, als ob es nicht Juni, sondern bereits September wäre. Ein trauriger, verstörender, beunruhigender Anblick. Das 2017 wird für die Gletscher kein wirklich gutes Jahr werden.
Verweile zwei Stunden auf dem Gipfel, bevor ich zum Hugisattel absteige. Ich nehme mir alle Zeit, denn die Schneeverhältnisse waren bereits frühmorgens im Aufstieg mittelmässig. Die Abfahrt zum Frühstücksplatz ist trotzdem recht ordentlich. Anschliessend wird es infolge der hohen Sonnen-einstrahlung eher grenzwertig. Die letzten zweihundert Höhenmeter zur Hütte hinab sind sogar heikel. Meine Skier graben sich stellenweise tief in den durchnässten Schnee ein. Das gefällt mir überhaupt nicht. Dennoch, der Hang sollte eigentlich halten. Vorsichtig, die Spur gut überdacht angelegt, bringe ich das letzte Stück der Abfahrt hinter mich. Unten atme ich erleichtert auf, die innere Anspannung legt sich, alles gut gegangen.
Vor der Hütte entledige ich mich rasch der warmen Kleider, schlüpfe aus den Skischuhen, geniesse die Wärme der Steinplatten unter meinen nackten Füssen. »It’s tea time«, kräftiger Schweizer Alpentee – »what else« – dazu ein paar Biskuits. Vis-à-vis leuchtet die Wannenhornkette in der Spätnachmittagssonne. Die Anordnung der Gipfel, zusammen mit den jeweils ausgewogenen Proportionen der einzelnen Berge, im Verhältnis zu der Flächenausdehnung der Firne und Gletscher, ergänzen sich in idealer Art. Parallel verlaufende Gletscherrampen und Felsgrate verleihen dem Massiv Spannung und Rhythmik. Nördlich davon setzt die jäh aus der Eisfläche aufsteigende Felspyramide des Grossen Grünhorns den nötigen Akzent. Sozusagen das i-Tüpfelchen, in dieser, gestalterisch sehr ästhetischen Hochgebirgslandschaft.
Unten beim Gletscher kommen zwei Skitourenfahrer an. Kurze Zeit später stehen sie bei mir oben. Wir grüssen uns. Ich überlasse die Hütte den beiden, steige zur grosszügig angelegten Sonnenterrasse der neuen Hütte hoch, um Tagebuch zu führen. Dort ist es jedoch so heiss, dass ich in den spärlichen Schatten der Südseite flüchte. Später dann, Nachtessen zu dritt vor der Hütte, bei immer noch hochsommerlichen Temperaturen. Interessante Gespräche über dies und das, die Begeisterung für die Berge verbindet. Die Zwei sind über den Fieschersattel gekommen. Der Gletscherabbruch sei bös aufgespaltet. An ein, zwei Orten hätte ihnen nur eine Schussfahrt, im rechten Winkel zu den sich im Schnee deutlich abzeichnenden Spalten, das Weiterkommen ermöglicht. Sie wie er, junge, sympathisch Leute, an die dreissig Jahre jünger wie ich. Die beiden haben letzten Sommer die Überschreitung Schreckhorn-Luteraarhorn gemacht: Alle Achtung. Am frühen Morgen schleiche ich mich auf Zehenspitzen aus der Hütte, um ihren Schlaf nicht zu stören. Ihr Wecker wird erst um fünf Uhr klingeln. Ihr Tagesziel ist das Finsteraarhorn.
Copyright Bild & Text: Christian von Almen. Nutzungsbedingungen: Impressum/ABG. Je nach Verwendungszweck stelle ich meine Bilder unter der "Creative Commons Lizenz" auch kostengünstig oder kostenlos zur Verfügung.
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