Hochtour
12.06.2017
Um drei Uhr früh breche ich bei mondhellen Licht von der Hütte auf, quere entlang einer imaginierten Höhenlinie hinüber Richtung Grünhornlücke. Eine Weile lang begleitet mich noch das Rauschen des Hüttenbachs. Dann tauche ich in die grosse Stille des nächtlichen Hochgebirges ein.
Beim Tagesanbruch komme ich oben an. Ein steifer Westwind empfängt mich. Ziehe mir eilig die Bergjacke über. Aus dem östlichen Firmament legt sich das Licht langsam herab auf Gipfel, Grate und Firne, sowie auf die grossen Gletscherströme zu beiden Seiten der Lücke. Rechts im Himmel, von der Sonne orange entflammt wie ein Feuerball, der Ausläufer einer Föhnwalze, geradeaus die Lötschenlücke mit ihren Trabanten.
Zziiijäck, Zziiijäck krächzen zwei Dohlen. »Guten Morgen«, antworte ich. Sie schweben in der Luft an Ort, stehen fast still, mit den Köpfen im Wind. Eine manövriert sich gekonnt ganz nahe an mich. Fast kann ich sie mit der Hand berühren. Plötzlich stellt sie ihre Flügel in den Wind, wird sekundenschnell nach oben und hinten weggerissen, wie ein Fallschirmspringer, dessen Schirm sich öffnet, fliegt in einer steilen Kurve den Wind erneut an, pfeilt an mir vorbei nach vorne. Schaue mit Begeisterung der akrobatischen, lustvollen Darbietung der beiden zu. Im Sturzflug erreichen Alpendolen bis zu 200 km/h, steigen mit der Thermik auf über 8000 Meter und das alles bei einem Körpergewicht von ca. 350 Gramm. Im Herbst sammeln sie sich über den sonnigen Bergweiden zu grossen Schwärmen von mehreren hundert Vögeln.
In meinem Rücken meine ich die Mächtigkeit des Finsteraarhorns zu spüren. Drehe mich um und da schaut es patriarchalisch auf mich herunter. Die letzten dunklen Nachtschatten liegen auf Hängen und Grate. Der Wind bläst ausgefranste, helle Flammenwolken vom Gipfel gegen Süden. Heute wird es wohl zügiger sein. Vor der Abfahrt ein letzter Gruss hinüber und hinauf, mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen im nächsten Jahr.
Wie schon vor zwei Tagen, lasse ich mich abermals beim Konkordiaplatz auf einem Granitblock nieder. Flach und blankgeschmirgelter dient er mir gleichzeitig als Tisch und Stuhl. Leicht erhöht steht er über dem Gletschereis. Leise schnurrt die Flamme des kleinen Hightech-Gaskochers neben mir; ein wunderbares Ding. Im Nu bringt es Schnee oder Wasser zum Kochen. Aus meinem Proviantsack fische ich ein Tütchen Cappuccino »cremoso & delizioso« heraus. Der Text auf der Verpackung verspricht »Cremiger Schaum. So gut wie im Kaffee und ohne Kaffeemaschine«. Na ja – man kennt ja diese Werbefloskeln. Dampfend vermischt sich das Pulver mit dem heissen Wasser, schäumt an der Oberfläche auch tatsächlich auf, fertig ist mein Morgen-Cappuccino. Duftet und schmeckt ganz ordentlich. Doch natürlich hält er den Vergleich zu einem Richtigen nicht stand, muss er jedoch auch nicht. Ein Frühstück hier oben hat ganz andere Qualitäten. Schweife mit meinen Augen über das weitläufige Panorama des Konkordiaplatzes, ohne Hast, hier und dort verweilend. Spüre wie sich die Wärme des Getränkes in mir langsam ausbreite.
Mir geht durch den Kopf: »Wie würdest du Freiheit für dich definieren«? Gerade jetzt, in diesem Augenblick, weiss ich es ganz genau. Ich werde auch rückblickend immer wissen: »An diesem Junimorgen, da hast du dich wirklich frei gefühlt! Da warst du der in dir ruhenden inneren Freiheit ganz nahe«. Eine Freiheit, nicht grenzen- und schrankenlos, nein, im Gegenteil: »Du hast dich gehalten, umfangen gefühlt.«
Schlussendlich packe ich meine sieben Sachen. Innerlich gewappnet für den langen Aufstieg, ziehe meine Spur, in gleichmässigen Schritten, über die grosse Fläche bergan. Bald verinnerlicht mein Körper Tempo und Rhythmus. Die Beine schieben sich fast wie von selbst nach vorne, eins ums andere. Nach einer halben Wegstunde verwehrt mir ein Gletscherbach das Weiterkommen. Dessen Ufer sind von den Gewitterhochwassern erdbraun eingefärbt, das Bachbett stellenweise über ein Meter tief ins Eis abgesenkt. Skier abschnallen und zu Fuss rüber oder dem Ufer entlang bis eine Brücke kommt? Entschliesse mich für die zweite Variante. Begleitet vom Rauschen, Sprudeln und Gurgeln folge ich dem Wasserlauf. Rechts mündet das ewige Schneefeld ein. Auch hier liegt kaum mehr Winterschnee. Das Eis zerbröselt in der Hitze. Eine zuverlässige Brücke habe ich nicht gefunden. Erst ganz hinten, am Fusse des Trugberges, wo sich die vielen Schmelzwasserbächlein in einem kleinen, milchig grüngrauen See sammeln, wechsle ich auf letzten Schneeresten bergseitig zum gegenüber liegenden Ufer.
Oben auf dem Joch wälzt sich der Föhn in brechenden Wellen, in Zeitlupe, über Felsen und Firne.Dabei erneuert und verändert sich die schwere, grauweisse Wolkenmasse in ihrer Form und Ausdehnung unablässig. Sonnenflecken und Schattenflächen spielen auf der weiten Firnfläche vor mir „Hasch-Mich“.
Kräftige kurze Windstösse packen mich immer wieder von vorne, als ob auch sie mit mir spielen wollten. Ich liebe dieses unruhige Wetter, das so sehr im Kontrast steht zu den Millionen alten, unverrückbaren Gletscher-Urlandschaften um mich herum. Fühle mich als Teil des Ganzen, empfinde mich jedoch gleichzeitig auch als aussenstehender Betrachter. Gebannt von dem wilden Treiben, dem fortwährenden auf der Hut sein vor lauernden Gletscherspalten, erreiche ich, gefühlsmässig viel schneller als anfangs befürchtet, bereits gegen Mittag das Jungfraujoch. Von hier bringt mich der Zug zurück ins Tal.
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