Skitouren
22.03.2018
Sieben Uhr dreissig, an einem kalten Wintermorgen auf dem Simplonpass, die Landschaft tief verschneit. Vor mir das altehrwürdige Hospiz, dessen Bau auf Napoleon zurückgeht. Aus einem der Schornsteine steigt eine dünne, weisse Rauchfahne in das vom werdenden Tag aufgehellte nachtrunkene Marinblau des Himmels. In meinen Gedanken steigen Bilder von einer warmen Stube, heissem Kaffee und einer geselligen Runde auf. Gebe mir innerlich ein Ruck, stosse die Wagentüre energisch auf, steige aus dem warmen Wageninneren; los geht’s. Draussen empfängt mich der Passwind, fegt mir kalt durch die Kleider. Um warm zu werden, felle ich in zügigem Tempo durch den tiefen Neuschnee Richtung Monte Leone, meinem Tourenziel.
Während der letzten Tage schneite es im ganzen Alpenraum ununterbrochen. Selbst heute Morgen war der Himmel auf der Nordseite noch schwer verhangen. Während dem hier im Süden bereits der zweite Schönwettertag anbricht. Trotzdem hat sich der Neuschnee nur schwach verfestigt. Leicht und pulvrig teilt er sich zu beiden Seiten meiner Skispitzen. Ich ziehe meine Spur den Hang hoch, in den noch jungen Morgen hinein. Dabei regen sich Zweifel in mir ob es – bei diesen Verhältnissen – klug war, vom Pass her zu starten. Doch anstatt umzukehren, setze ich den Aufstieg fort. Erst am Anfang der etwa dreihundert Meter langen, steilen Traverse unter dem Hübschhorn hindurch halte ich an; auf einem flachen, kleinen Boden. Mit gemischten Gefühlen studiere ich die steile Seite vor mir. Es ist nicht nur der viele Neuschnee der mir Sorgen macht. Auch die Exposition, Nordost, stimmt mich nachdenklich. Ramme den Stock in den Schnee. Dieser verschwindet bis über seine Hälfte, als ob da nichts wäre. Nein, die Lage ist nicht wirklich gut. Gegenüber locken jedoch die verschneiten, persilweissen, bereits von der Sonne beschienenen Hänge. Warum also nicht einfach hinüber queren, jetzt wo ich schon mal hier bin? Die Chancen, dass es gut geht, schätze ich auf sechzig zu vierzig. Zudem, was sind schon dreihundert Meter Querung zu dreihundert verlorenen Aufstieges-Höhenmeter.
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Mit meinen Augen folge ich nochmals der imaginären Linie meiner Skispur, würde ich den Hang traversieren. Wenig später stehe ich wieder unten beim Hospiz. Ja, die Bequemlichkeit: Zuweilen ist sie wirklich eine mächtige Einflüsterin. Doch heute habe ich ihr widerstanden.
Also, neuer Anlauf, neuer Ausgangspunkt. Dieser befindet sich etwas unterhalb der Passhöhe, Richtung Brig, auf dem Dach der ersten Strassengalerie. Ich folge einer leicht zugewehten Spur vom Vortag. Sie wurde, wie fast alle heutigen Spuren, zu steil angelegt. Anstatt vorgängig und fortlaufend das Gelände, die Topografie sorgfältig zu studieren, wird in unserer Zeit einfach die Gehhilfe auf das Maximum hochgehebelt. Es scheint modern zu sein, gegen den Hang anstatt mit dem Hang hochzusteigen. Wer weiss denn noch, wie es sich anfühlt, im Rhythmus und in der Harmonie mit dem Relief bergan zu gehen, ganz so als folgte man einem Jahrhundert altem Walserweg? Der Aufstieg führt zunächst durch einen stotzigen, offenen, jungen Lärchenwald. Dann breitet sich das Gelände, die Lärchen fallen zurück. Nun zieht sich die Spur, ein wenig verloren, entlang der grossen Hänge, hoch zu den Graten und Gipfeln am Horizont. Zu meiner Linken erhebt sich die abschüssige Nordwand des Monte Leone. An ihrem Fuss beginnen mehrere flachere Schneehänge, die sich im Chaltwassertäli sammeln und anschliessend, wie ein träger Nebenfluss, in die grossen Schneeseiten der Chalti Wasser müdem. Dort wo das Gelände planer wird, wellet es auf, bevor es anschliessend ins Tal hinunter fliesst. Eine grosszügig angelegte, offene Landschaft mit weichen Konturen. Die Lust, mit der Hand darüber zu streichen, entlang der Geländerücken, hinunter in die Tälchen, hoch zu den Kuppen, von oben nach unten, über die von der strahlenden Wintersonne beglückten weissen Flächen.
Nach drei Stunden und etwas mehr erreiche ich den Hohmattupass. Weit oben, noch weiter oben der Breithornpass, der Durchschlupf zum Monte Leone. Erinnerungen an eine fast perfekte Sulzschneeabfahrt nach Simplon Dorf hinunter, mit nimmer endenden Hängen. Erinnerungen an die Rast unter den alten Lärchen, mit Blick auf die noch hellbraunen Talmatten. Ein Mittagsschläfchen auf dem sonnenwarmen Polster der Lärchennadeln, das Tal erfüllt von Frühlingsversprechen.
Von den Berner Alpen weht ein kalter Bieswind herüber. Das Panorama reicht von Les Diablerets im Westen über die Grimsel hinaus bis zu den Urner Hochalpen im Osten. Beim Bietschhorn, dem perfektesten aller Berge, verweile ich für einen kurzen Augenblick. Doch ich kann mich an der Aussicht nicht wirklich satt sehen, denn die Kälte und der Hunger vertreiben mich vom windausgesetzten Pass. Auf seiner Südseite finde ich einen von der Zugluft halbwegs geschützten Mittagsplatz. Näher als vorhin die Berner Alpen, direkt vis-à-vis, steilen sich die über tausend Meter hohen, teilweise noch vergletscherten Ostwände der Weissmiesgruppe der Sonne entgegen. Zu ihren Füssen der enge Talboden, seine Wiesen vom ersten Grün des Frühlings überhaucht. Oberhalb von mir, am Breithorngipfel sowie am nördlich davon gelegenen Pass tollen sich mächtige Schneefahnen über Gipfel, Grate und Hänge. Ohne meinen Umweg von heute Morgen würde ich mich jetzt wohl dort oben mit aller Kraft gegen den Wind stemmen. Kaum habe ich mich hingesetzt, scheuchen mich die Kälte und der Wind aus meinem kurzen Mittagsrast wieder auf die Beine. Bin froh, vom Pass herunter zu kommen. Nach ein paar Höhenmetern lässt denn der Bieswind auch deutlich nach. Auf einer Hügelkuppe schwinge ich ab. Unter mir zieht sich der grosse, lange Aufstiegshang hinunter bis auf das Dach der Strassengalerie. An die vierhundert Meter, schätze ich, beträgt der Höhenunterschied bis zu den ersten Lärchen. Kurz überschlage ich, wie viele Kurven das gibt: Pro Kurve verliere ich an die zwanzig Höhenmeter, also - rund zwanzig langgezogene, grosszügig gefahrene Kurven in vollkommen offenen Gelände!
Viel zu schnell komme ich unten an. Innehalten. Die rhythmischen Hoch- und Tiefbewegungen wirken in meinem Körper nach, wie der Wellengang nach einer langen Schifffahrt, beim Betreten von festem Boden. Schliesse meine Augen und denke mich nochmals zurück in die Abfahrt.
Aus dem stiebenden Schnee tauchen meine Skier auf. Die Arme strecken sich wie Flügel zu beiden Seiten. Die Hände greifen, durch die Fliehkraft schwerelos, in die Weiten des Raumes hinein. Unter den Füssen nur noch Luft, Sekunden von absoluter Schwerelosigkeit. In einer ebenmässigen Halbkreisbewegung zieht nun die bogenäussere Hand nach vorne in die nächste Kurve hinein, zieht den ganzen Körper mit. Dieser dreht sich in seiner Vertikalachse, kippt leicht gegen innen und folgt der Dynamik der eingeleiteten Bewegung. Tauche in den Schnee ein, federe den freien Fall mit den Knien ab, gebe Vorlage, verliere an Geschwindigkeit. Verschiebe das Körpergewicht auf den Talski und steuere so den Kurvenradius. An den Skispitzen und an den Knien wirbelt das Weiss in einer mächtigen Fahne auf, umhüllt fast meinen ganzen Körper. Ein filigraner, vergänglicher Schleier, der – wie der Schweif eines Kometen – hinter mir zurückfällt. Beinmuskeln anspannen, aus dem Schnee abstossen, der Wiederstand fällt weg, das Tempo steigt. Mit den weit ausgestreckten Armen erneut das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Körperteilen, den Fliehkräften, der im Kopf angedachten Spur sowie den Weiten des Raumes erspüren und ausbalancieren. Für einen Sekundenbruchteil, eine kleine Ewigkeit, von neuem, schwerelos zwischen Himmel und Erde.
Jede einzelne Bewegung tausend Mal gemacht. Jede einzelne Bewegung verinnerlicht, wohl vertraut und dennoch: Jede einzelne Bewegung immer wieder neu. Körper und Geist „geflutet“ von dem rhythmischen Hoch- und Tiefgehen, von Spiel mit den Fliehkräften, vom intensiven Licht des Schnees, von der kalten, trockenen Winterluft in der Lunge.
Der ruhige Atem gibt das Tempo vor, verlangsamt jede einzelne Bewegung, intensiviert das Erleben, steigert die Gegenwärtigkeit. Und nebenbei führen diese Bewegungen in „Zeitlupe“, dieser leichtfüssige Tanz auf dem Schnee, zu den herrlich langgezogenen, grosszügigen Kurven. Une trace c’est comme une signature ...
Copyright Bild & Text: Christian von Almen. Nutzungsbedingungen: Impressum/ABG. Je nach Verwendungszweck stelle ich meine Bilder unter der "Creative Commons Lizenz" auch kostengünstig oder kostenlos zur Verfügung.
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